Frank Wittmer

Auf der Wendeltreppe des Lebens

Es ist Vormittag. Frank Wittmer tippt den Pinsel in blaue Ölfarbe und setzt mit einem routinierten Schwung aus dem Handgelenk einen Strich auf die Leinwand. Prüfend gleitet der Blick des Architekten über die Szene, die hier vor ihm entsteht: Seehunde, die entspannt im Wasser schlafen und unendliche Ruhe ausstrahlen.

Das leise Zischen der Kaffeemaschine holt ihn aus seinen Gedanken. Vorbei an Fotografien, einem Schiffsmodell und aufgestapelten Leinwänden geht Frank in die Küche. Man könnte meinen, in einem Museum zu sein. Die Rakete von Tim und Struppi, eine Basstrompete und eine Schar kleiner Figuren fügen sich ebenso selbstverständlich in die Sammlung der Gegenstände wie der Backofen. Frank liebt schöne Dinge. Am liebsten hat er sie überall um sich.

Mit der Kaffeetasse in der Hand lehnt er sich entspannt zurück. Seine Vormittage sind ihm heilig. Um das zu erkennen, musste er jedoch lange andere Wege gehen ...

Ich bin ein Großmeister darin, Fehler zu machen

Frank wächst in einem Sägewerk in Süddeutschland auf, umgeben vom Duft frisch geschlagener Holzstämme. In der Dorfgesellschaft fällt er auf. Sein Elternhaus lässt ihn gutbürgerlich-konservativ heranwachsen. Schon als Sechsjähriger trägt er zum Spielen eine graue Hose mit Bügelfalte, weißes Hemd und rote Fliege. Wenn andere Kinder beim Essen schmatzen oder mit den Fingern essen, weist er sie darauf hin. Daheim darf er sich künstlerisch frei entfalten. Er tanzt, spielt Gitarre, zeichnet. Vom Kopffüßler bis zur perfekten naturalistischen Abbildung. Alltägliches oder Kurioses, wie etwa einen Schrumpfkopf, den ein Bekannter der Familie von einer weiten Schiffsreise mitbringt, hält er mit der Kamera fest.

Selber Schönes und Ästhetisches schaffen – das ist Franks Wunsch. Vielleicht Gitarren oder Geigen bauen und mit Holz und Musik arbeiten? Er studiert Kunsterziehung und findet Erfüllung in der Bauhaus-Lehre. Wieder kann er nach Herzenslust zeichnen, gestalten, weben und töpfern. Ein Freund bringt ihn zur Architektur. Frank tauscht die „brotlose Kunst“ gegen einen „angesehenen Beruf“. Schöngeist gegen Karriere.

Als Architekt erschafft Frank Gesamtkunstwerke. Seine Kunden stammen aus allen Branchen und Lifestyle-Bereichen. Er inszeniert für sie, schafft Raumgestaltungen, über die Inneneinrichtung bis hin zur Auswahl der Musik. Eine Einheit, ein Erlebnis bis ins letzte Detail.

Ich liebe die Form von Wendeltreppen. Mit jedem Schritt ändert sich die Perspektive und Licht und Schatten wechseln sich ab.

Mit dem Erfolg beginnt ein Leben wie im Rausch. Frank nimmt unerschütterlich alles mit, was an höher, schneller und weiter zu kriegen ist. „Halbe Sachen haben mich nie interessiert.“ Das eigene Architekturbüro in Stuttgart. Atemberaubende Urlaube. Eine Scheidung. Eine Rolex. Die Trennung von der Geschäftspartnerin. Die Bestätigung der geschäftlichen Insolvenz nimmt er mit einer Geste von Dankbarkeit entgegen. Endlich weniger Ballast! Frank kultiviert dabei eine besondere Routine:

Ich mache Fehler, manchmal dieselben zwei- oder dreimal, leide wie ein Schwein, schüttle mich und stehe wieder auf.

Sein guter Ruf als Architekt bringt ihn schnell wieder nach vorne – diesmal zu einem Projekt im Oman. „Das könnte eine schöne Sache werden, den Tag am Strand zu beginnen.“ Frank folgt der Verlockung – und damit dem Ruf zurück ins Hamsterrad.

Alles schick. Wieder alles richtig gemacht? Neue Partnerschaft in einem Architekturbüro an keiner geringeren Adresse als am Ku’damm. Aber „irgendetwas“ passt nicht mehr. Die Antwort zeigt sich schnell in Form eines Herzinfarkts. Die Kunden merken nichts – sie warten, wenn auch ungeduldig. Bauherren wollen einen Termin, Mitarbeiter erwarten Führung und Ansage. Mit eingesetzten Stents ist er nach zwei Wochen wieder auf den Beinen. Doch nun merkt Frank: Er muss sich anstrengen, das Pensum zu bewältigen. Er teilt aus, wird aggressiv, macht sich Feinde. Stößt auf Widerstand.

Aufstehen, weitermachen, wenn nötig im Autopilot-Modus. „Ich habe Sachen gemacht, hinter denen ich nicht mehr stand. Ich kam mir vor wie ein Erfüllungsgehilfe für kulturlose Spekulanten. Wie ein getriebener Gaul.“ Bei einem Routinecheck im Krankenhaus geschieht das, was geschehen musste. Frank erleidet erneut einen Herzinfarkt.

Konnte ich meinen ersten Infarkt noch abschütteln wie eine lästige Fliege, zog der zweite gekonnt alle Register. Er legte mich komplett lahm.

Eine duftende Butterbrezel, die ein Freund ins Krankenhaus mitbringt, wird zur Offenbarung: Eine Welle vertrauter Erinnerungen aus Kindertagen flutet durch Franks Körper. Die Sehnsucht nach der Freiheit und der Kreativität von damals bricht sich ihre Bahn. Tränen rollen über seine Wangen. Hinfallen, aufstehen, immer weitermachen? Frank erkennt den Wink des Lebens.

Warum muss ich eigentlich ein Büro am Ku’damm haben?

In der anschließenden Reha findet er erstmals wieder Zeit zu malen und zu fotografieren. Er spürt, dass er damit etwas Verlorengeglaubtes wiedergefunden hat: die Gabe, Schönes zu gestalten, das Freude schenkt. Was sich damals schon „gut“ angefühlt hat, bringt ihn jetzt zum wesentlichen Wendepunkt seiner Laufbahn: Er beschließt, nur noch Herzensprojekte zu machen. Nie mehr Hamsterrad!

Frank räumt richtig auf, hinterfragt sein ganzes Tun und Schaffen kritisch. Was zählt das Renommee eines großen Architekturbüros im Vergleich zu neuer Lebensqualität? Er kündigt die Partnerschaft in der GmbH, informiert Mitarbeiter, Wegbegleiter und Freunde.

„Drehst Du jetzt völlig durch?“, wird er gefragt. Seine Entscheidung teilt sein Umfeld in zwei Gruppen. Die einen staunen – noch etwas ungläubig – aber freuen sich für ihn. Andere, die von seiner Energie profitierten, sind sauer, dass er nicht mehr mitspielt, und wenden sich ab. Ein Jahr nimmt sich Frank Zeit, segelt und lässt die Dinge auf sich zukommen. Aus der Ruhe entsteht eine neue Kraft.

Der Ausstieg aus dem Architekturbüro bedeutet jedoch nicht, dass Frank auch dem Beruf Adieu sagt. Er sucht sich nur genau aus, mit wem er arbeiten will. Plötzlich öffnen sich Türen, die ihm früher verschlossen blieben. Wo er vorher auf Widerstand gestoßen war, spürt er nun Zuspruch.

Kleiner und feiner werden seine Projekte von nun an, wie das Mehrgenerationenhaus, an dem er gerade für eine Familie in Berlin arbeitet. Der Werkstoff Holz darf eine wichtige Rolle spielen. Denn der Geruch des Werkstoffes weckt glückliche Erinnerungen. Vielleicht wird es auch eine Wendeltreppe geben, wenn die Auftraggeber zustimmen. „Als Architekt bin ich ja ein Dienstleister und kein freier Künstler“.

Den Freiraum für seine sonstige Kunst schafft sich Frank an den Vormittagen und hütet ihn wie einen kostbaren Schatz. Diese wertvollen Stunden bedeuten ihm alles. Er spielt wieder Trompete, tanzt oder malt und erfreut sich an der gesammelten Schönheit um ihn herum. Jetzt ist er wieder ganz bei sich, ganz er selbst.

Interview: Caroline Pusch
Fotos: Deniz Saylan